Chancen der Selbstverwaltung nutzen
Bald ist der 19. Deutsche Bundestag Geschichte. Noch nicht ganz klar ist, was von dieser Legislaturperiode im gesundheitspolitischen Gedächtnis bleibt. Corona, sicherlich! Aber vielleicht verdeckt die Covid-19-Pandemie am Ende eine Entwicklung, die viel früher eingesetzt hat.
Schon vor Covid-19 hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ein enorm hohes gesetzgeberisches Tempo angeschlagen. Dafür brauchte es nicht die pandemiebedingte Außerkraftsetzung des Parlaments.
Innerhalb von zwei Jahren verabschiedete der 19. Deutsche Bundestag knapp zwei Dutzend Gesetze, die in den Verantwortungsbereich des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) fallen. Jedes dieser Gesetze beinhaltete immer wieder Nadelstiche gegen die Selbstverwaltung: mal etwas mehr gegen die Ärzte, dann wieder gegen die Krankenkassen. Und im Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) gleich gegen beide, als der Minister nahezu im Handstreich 51 Prozent der Gematik-Anteile ans BMG übertrug.
Jens Spahn indes inszenierte sich als der „Retter des gebeutelten Patienten“, der keinen Termin beim Arzt bekommt und dessen Oma oder Vater nicht ordentlich gepflegt werden. Der seit zehn Jahren auf seine elektronische Patientenakte wartet und nicht Herr über seine Gesundheitsdaten ist. Der sich zwar inzwischen jedes Flug-, Bahn- und Kinoticket aufs Smartphone laden kann, aber seinen Medikationsplan und sein Rezept auf Papier durch die Gegend tragen muss.
Dabei ist gar nicht sicher, dass es Jens Spahn gelingt, die Inszenierung zum Erfolg zu führen. Er
oder seine Nachfolger könnten sich allerdings sein „Erfolgsmodell“ zum Vorbild nehmen. Die gesamte Selbstverwaltung, nicht nur die der Ärzte, muss sich die Frage stellen, was sie diesem
Trend entgegensetzt, ob sie wieder mehr Augenmerk auf das „selbst“ legt als auf die „Verwaltung“. Allzu oft hört man den Satz, die Politik müsse das jetzt regeln. Wo bleibt der Anspruch eines freien Berufsstandes? Wer formuliert diesen Anspruch und mit wem? Was ist die Rolle der Kassenärztlichen Vereinigungen? Wo gibt es „neue“ Verbündete, von denen man zurzeit nicht glaubt, dass sie welche sein könnten? Es wäre auf jeden Fall eine andere Art von Gesundheitspolitik.
Als im Jahr 2009 Philipp Rösler als Gesundheitsminister die Nachfolge Ulla Schmidts antrat, rief nicht nur die FDP: „Ein Arzt, endlich jemand, der sich damit auskennt!“ Welch‘ Fehleinschätzung über das Wesen aktueller Gesundheitspolitik! Philipp Rösler war bis dahin gesundheitspolitisch nie in Erscheinung getreten. Als 2018 Angela Merkel Jens Spahn zum Gesundheitsminister machte, sprachen viele von einem vergifteten Angebot der Kanzlerin an jemanden, der eigentlich
keine „Lust“ auf das Amt habe. Spahn verfügte zu diesem Zeitpunkt über 13 Jahre Erfahrung im Gesundheitsausschuss des Bundestages, sechs Jahre davon als gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion und hatte offensichtlich große Lust, das auch zu zeigen. Gesundheitspolitik darf sich aber nicht in der staatlichen Verteilung von jährlich knapp 300 Milliarden Euro erschöpfen.