Gefährliche Staatsgläubigkeit oder „iudex non calculat“
Im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 17.11.2020 sprach der Präsident des Bundessozialgerichts (BSG), Rainer Schlegel, bemerkenswerte Sätze: „Schon vor der Pandemie sind die Gesundheitsleistungen stark ausgeweitet worden. Wirtschaftlichkeit und Beitragssatzstabilität wurden nicht mehr ernst genommen. Ebenso wenig die Eigenverantwortung des Einzelnen. Das muss sich wieder ändern.“
Umso erstaunlicher ist Schlegels Schlussfolgerung. Die Pandemie werfe auch die Frage auf, ob die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) nicht grundsätzlich von Beitrags- auf Steuerfinanzierung umgestellt werden sollte. Steuerfinanzierung als Garant für Wirtschaftlichkeit, Beitragssatzstabilität und Eigenverantwortung? Wie wirtschaftlich der Staat arbeitet, dokumentieren regelmäßig die Berichte des Bundes- und der Landesrechnungshöfe. Statt Eigenverantwortung droht Gesundheitsversorgung nach Kassenlage. Der britische NHS lässt grüßen.
Weitere Argumente Schlegels sind hinreichend bekannt. Die GKV sei ein „riesiges Umverteilungssystem“, das „aber nur 90 Prozent der Bürger“ versichere. Die Solidarität höre an der Beitragsbemessungsgrenze auf. Gute Gesundheitsversorgung sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Gegenfrage: Wäre es solidarischer, künftig ebenso wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgaben wie Investitionen in Bildung oder Infrastruktur im Haushaltsausschuss des Bundestagsgegen die nicht minder berechtigten Patienteninteressen abzuwägen?
Genau das wäre nämlich die Folge. Weiter fragt Schlegel mit Blick auf die Debatte um das Medikament Zolgensma: „Warum soll eine Spritze für zwei Millionen Euro, die ein Kind rettet, nur von den Beitragszahlern der gesetzlichen Kassen finanziert werden?“ Auch hier die Gegenfrage: Warum soll das der Bundestag klären und nicht jene, die davon mutmaßlich mehr verstehen – Leistungserbringer, Kostenträger und Patientenvertreter?
Es gibt eine Menge Baustellen im deutschen Gesundheitssystem. All diese Fragen werden aber nicht durch eine steuerfinanzierte Krankenversicherung gelöst, zumal Schlegel die wichtigste Frage nahezu unbeantwortet lässt. Wo genau soll das Geld herkommen? „Eine gewisse Steuererhöhung “, schlägt der BSG-Präsident vor. Zu „einem sparsameren Umgang mit den Leistungen“ müsse man kommen. Eigenbeteiligung sei ein Mittel.
Um es konkret zu machen: Im Nicht-Corona-Jahr 2019 lagen die GKV-Leistungsausgaben bei knapp 240 Milliarden Euro. Das Gesamtvolumen des Bundeshaushalts betrug etwas über 356 Milliarden Euro. Für das Jahr 2020 waren ursprünglich einmal 362 Milliarden Euro angesetzt. Der Bundeszuschuss in den Gesundheitsfonds beträgt in diesem Jahr übrigens 22,5 Milliarden statt bisher knapp 15 Milliarden Euro.
Also, Butter bei die Fische! Wie hoch muss „eine gewisse Steuererhöhung“ ausfallen, um mehr als zwei Drittel eines normalen Bundeshaushaltes zu generieren? Wo soll gespart werden? Und wie hoch darf die Eigenbeteiligung ausfallen? Diese Fragen verlangen eine Antwort, bevor man das System der dualen Finanzierung der Gesundheitsversorgung in Deutschland aushebelt, das nach einhelliger Expertenmeinung das Land bisher gut durch die Krise gebracht hat.
Machen Sie mit! DIFA Science: Versorgungsforschung in Ärztehand. Sie liefern mit Ihrem Engagement datenbasierte Argumente für die Berufspolitik. Nähere Informationen unter http://www.vf.pvs.de