Deutschland hat gewählt, und wie!
Um es mit Brecht zu sagen: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen: den Vorhang zu und alle Fragen offen.“ Weniger lyrisch titelte die „Ärzte Zeitung“ online am Freitag vor der Wahl mit Verweis auf eine eigene Umfrage: „Leser wünschen sich Schwarz-Gelb, aber Kanzler Scholz“. Das Umfrage-Ergebnis beschreibt recht eindringlich, die Quadratur des Kreises, vor der die politischen Akteure stehen.
Ob wirklich vor Weihnachten eine Koalitionsvereinbarung unterzeichnet ist und eine neue Bundesregierung steht, ist ungewiss, auch wenn sich das alle Beteiligten am Wahlabend zum Ziel
gesetzt haben. Sicher ist nur eines: Ein rot-grün-rotes Bündnis hätte keine Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Insofern ist dieser Text im Wissen um die eigene Ungewissheit ein Risiko. Andererseits hilft es wenig, das Ergebnis einer Bundestagswahl zu ignorieren. Deshalb drei kurze – zugegebenermaßen auch spekulative – Gedanken:
Die Bürgerversicherung – zumindest im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) – wird nicht kommen. In einer Ampelkoalition ist es schwer vorstellbar, dass SPD und Grüne sich mit der FDP ausgerechnet an diesem Punkt verkämpfen. In einem Jamaika-Bündnis stünden die Grünen mit dieser Forderung insgesamt wohl auf verlorenem Posten. Für die Pflegeversicherung ist ein solches Modell in einer rot-grüngelben Ampel möglicherweise noch denkbar. Die systematische Umstellung wäre leichter als in der GKV, das Engagement der privaten Versicherungswirtschaft in diesem Sektor bisher eher überschaubar.
Gesundheitspolitik darüber hinaus könnte in den Koalitionsverhandlungen eine Rolle spielen. Sie wird sich jedoch wohl eher auf das Justieren bekannter Schwachstellen konzentrieren: das Aufbrechen der Sektorengrenze zwischen ambulant und stationär oder Veränderungen am DRG-System. Angesichts der weitaus drängenderen Probleme in der Renten- und Finanzpolitik wird jedoch niemand mit Restvernunft die Systemfrage im Gesundheitswesen auf die Tagesordnung setzen.
Grund dafür sind die drei Landtagswahlen, die im kommenden Jahr anstehen. Das Saarland wählt im März. Im Mai folgen binnen einer Woche Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen, wo mit Heiner Garg (FDP) im Norden und Karl-Josef Laumann (CDU) im Westen zwei Gesundheitsminister im Amt bleiben wollen, die auch innerhalb ihrer Parteien politisches Gewicht einbringen. Nicht zu vergessen die Riege grüner Landesgesundheitsminister, wie Manfred Lucha aus Baden-Württemberg, der inzwischen auch auf eine fünfjährige Amtszeit zurückblickt.
Dritter Punkt: Viele der alten Gesichter sind auch die neuen. Man kennt also seine „Pappenheimer“: Erwin Rüddel (CDU), bisher Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, die bisherigen gesundheitspolitischen Sprecherinnen Maria Klein-Schmeink (Grüne), Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) und Sabine Dittmar (SPD). Allesamt sind wieder im Bundestag. Auch Karl Lauterbach (SPD) ist dabei. Nach vierjähriger Auszeit zurück ist Lars Lindemann (FDP). Schwierig wird es für die Union, ihr gesundheitspolitisches Leck zu dichten. Rudolf Henke verlor seinen Aachener Wahlkreis. Karin Maag, bis Juli gesundheitspolitische Sprecherin, war noch vor der Wahl als Unparteiische Vorsitzende an die Spitze des Gemeinsamen Bundesausschusses gewechselt. Und ob Jens Spahn, der seinen Wahlkreis knapp verteidigen konnte, Gesundheitsminister bleibt, ist höchst fraglich.
Autor: Stefan Tilgner (PVS Verband)